Aus: Berliner Zeitung, 06.12.2023
Das Interview wurde während des Was-tun-Kongresses geführt.
Quelle: Berliner Zeitung, 06.12.2023
Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko hat sich dem Bündnis Sahra Wagenknecht angeschlossen. Ein Gespräch über die Stimmung bei den Linken.
Interview: Ramon Schack
Andrej Hunko, 60, gehört zu jenen zehn Bundestagsabgeordneten, die kürzlich die Linkspartei verlassen haben und seitdem als Parteilose und Mitglieder des Bündnisses Sahra Wagenknecht ihr Mandat ausüben. Hunko war am vergangenen Sonnabend Gast auf dem „Was tun?!“-Kongress in Frankfurt am Main.
Das „Was tun?!“-Netzwerk ist eine parteiinterne Strömung, die sich selbst als ein kommunikativer Ort zwischen verschiedenen linken Strömungen betrachtet.
Herr Hunko, Sie waren am Sonnabend auf dem „Was tun?!“-Kongress in Frankfurt zu Gast. Was war denn Ihre Intention? Waren Sie in der Hoffnung angereist, die Personalstärke des BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) zu verstärken, durch das Abwerben von Mitgliedern? Oder ging es Ihnen darum, sich an der Diskussion zu beteiligen?
Es ging mir dabei darum, mit diesem Prozess, denn um einen Prozess handelt es sich ohne Zweifel, bei den Aktivitäten der „Was tun?!“-Netzwerke im Austausch zu bleiben und mich auch den Fragen zu stellen, die dort auftraten.
Wurden Sie denn mit vielen Fragen vor Ort konfrontiert?
In der Tat. Es gab natürlich viele Fragen, da vieles zurzeit auch präzedenzlos ist, das Verhältnis der Linkspartei zum BSW und auch der Parteigründung, weshalb ich als Gast an diesem Kongress partizipiert habe.
Waren Sie enttäuscht darüber, dass es in Frankfurt nicht zu einer massiven Austrittswelle gekommen ist, aus der Linkspartei in Richtung BSW?
Ich hatte vor Ort schon den Eindruck gewonnen, dass in Frankfurt der Entfremdungsprozess von der Partei Die Linke viel weiter vorangeschritten war und ist, als man im Karl-Liebknecht-Haus begreifen will. Auch viel weiter als noch beim letzten „Was tun?!“-Kongress in Hannover. Aber ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich dort war, um Mitglieder zu sammeln, wie Sie mit Ihrer Eingangsfrage suggerierten.
Dieter Dehm hatte dem BSW in Frankfurt schwere Vorwürfe gemacht, speziell was die Friedensdemonstration am Brandenburger Tot angeht beziehungsweise deren Organisation. Können Sie das nachvollziehen oder fanden Sie diesen Redebeitrag pathetisch?
Nun ja, Dehm vertrat ja die Auffassung, die Demonstration in Berlin war nicht sehr erfolgreich oder hätte seiner Meinung nach viel erfolgreicher sein können. Diese Meinung teile ich nicht, denn die Demonstration hatte meine Erwartungen übertroffen. Der Vergleich mit der Kundgebung am 25. Februar 2023 hinkt etwas, denn da hatten wir eine zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung inklusive der großen Medien und der diversen politischen Kräfte erlebt, was natürlich auch mobilisierend wirkte und jetzt so nicht ganz der Fall war. Ich weiß, wie schwer die Organisation von Friedensdemos ist, insofern bewerte ich die Veranstaltung in Berlin Ende November als Erfolg.
Ihr Feld ist die Außen- und Sicherheitspolitik. Haben Sie in letzter Zeit den Eindruck gewonnen, dass das Bewusstsein für Geopolitik und gescheiterte geostrategische Entwürfe des Westens in der Bevölkerung gestiegen ist?
Unbedingt, dieses Bewusstsein ist wirklich deutlich gestiegen. Die Menschen spüren natürlich auch, wie der Krieg und die Kriegsgefahr immer näher kommen, flankiert von den direkten Auswirkungen, Inflation, Energieprobleme etc.
Gehen Sie davon aus, basierend auf dem sich veränderten Bewusstsein in der Bevölkerung, dass dieses auch direkte Auswirkungen auf das Parteiensystem in Deutschland haben könnte?
Sicherlich, davon gehe ich aus, ja. Vor allem, weil ich leider davon ausgehen muss, dass dieser Prozess weitergeht und wir dadurch auf eine Konfrontation zusteuern. Dies wird natürlich auch bei der Europawahl im kommenden Jahr eine Rolle spielen, zumal die EU es versäumt hat, Europa als einen Kontinent des Ausgleichs zu etablieren, zwischen Ost und West, ohne den Vorgaben Washingtons zu folgen.