Aus: Telepolis, 06. Dezember 2023
Quelle: Telepolis vom 06.12.2023
Linksfraktion im Bundestag ist Geschichte. Neue Gruppen sehen sich im Aufwind. Wie Anhänger von Wagenknecht nun eigene Strukturen schaffen.
Von Ramon Schack und Harald Neuber
Der von der Linkspartei gefasste Beschluss, die eigene Fraktion aufzulösen, ist in der Nacht zum heutigen Mittwoch wirksam geworden. Ursache hierfür war der Austritt von Sahra Wagenknecht und neun weiteren Abgeordneten aus der Partei. Dem Schritt war ein jahrelanger Richtungsstreit vorausgegangen.
Die ehemaligen 38 Fraktionsmitglieder werden sich künftig wohl in zwei Gruppen im Bundestag wiederfinden: Auf der einen Seite die in der Linkspartei verbliebenen 28 Abgeordneten, daneben die zehn Abgeordneten des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“.
Damit einher geht ein Bedeutungsverlust für die Partei Die Linke. Denn Gruppen ohne Fraktionsstatus haben im Bundestag weniger Rechte als Fraktionen und genießen auch weniger finanzielle Zuwendung.
Details dazu müssen jedoch noch in einem Bundestagsbeschluss festgelegt werden. Die Mindestgröße für die Gründung einer Fraktion im Bundestag beträgt 37 Sitze.
Die Linksfraktion hatte sich 2005 aus Mitgliedern der Linkspartei/PDS und der WASG zusammengefunden, zwei Jahre vor der offiziellen Verschmelzung beider Parteien. Dieses Kapitel endet nun.
Das Liquidationsverfahren, in dem auch vertragliche Beziehungen abgewickelt werden müssen, wird sich über einen langen Zeitraum hinziehen. Die Entscheidung zur Liquidation wurde im November getroffen und ist jetzt wirksam geworden. Etwa 100 bisherigen Angestellten der Linksfraktion wird gekündigt.
Inwieweit sich dieses Geschehen auf die Zukunft der Partei Die Linke und des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) auswirken wird, vor allem aber auch, wie die Wählerinnen und Wähler darauf reagieren werden, ist zur Stunde fraglich.
Keine Ruhe in der Linken
Wie es aber scheint, hat sich in der Linkspartei eine Hoffnung nicht erfüllt: dass nach dem Austritt der Gruppe um Wagenknecht Ruhe einkehrt und sich Erfolge einstellen. Das wird derzeit weder von den Umfragen noch vom Geschehen in der Partei gestützt.
Innerhalb der Partei ist eine Debatte darüber entbrannt, ob eine Mitgliedschaft noch Sinn macht: „Wir haben an unterschiedlichen Stellen versucht, diesen fatalen und selbstzerstörerischen Kurs durch innerparteiliche Initiativen zu verändern“, hatten mehrere Bundestagsabgeordnete zu ihrem Austritt erklärt.
Sie nannten die „Initiative Populäre Linke“ zum Bundesparteitag 2022, die Versuche, einen bundesweiten Mitgliederentscheid zu friedenspolitischen Themen durchzuführen, einen Sonderparteitag zur Klärung der Differenzen zu erreichen sowie verschiedene innerparteiliche Initiativen auf Kommunal- und Landesebene.
„All dies war jedoch nicht von Erfolg gekrönt und gipfelte letztendlich in einem Europaparteitag, dessen Ergebnis die EU nicht mehr als neoliberales militaristisches Bündnis im Auftrag der Konzerne kritisiert, die Friedensfrage weiter aushöhlt und in der Migrationsfrage einen neokolonialen Kurs fährt“, schrieben sie.
Nicht wenige Beobachter und Aktivisten meinen, Aufgabe einer Linken sei es, die wesentlichen Ursachen und Folgen der laufenden Kriege aufzuzeigen. Immer wieder wird auch die Forderung laut, die Rolle der Nato sowie der Profiteure des Ukraine-Krieges und des damit einhergehenden Wirtschaftskrieges zu benennen.
Als einer der Bruchpunkte wird in diesem Lager der Konflikt nach einer Rede von Sahra Wagenknecht im letzten Jahr im Bundestag gesehen. Darin schilderte sie ihre Meinung zur Aufgabe einer linken Opposition. Es folgte ein heftiger Disput in Partei und Fraktion.
Kritik an „Redeverbot“ für Wagenknecht in der Linken
Bei ihren Anhängern sorgt das bis heute für Verbitterung: „Statt sich hinter Sahra, einer der beliebtesten Politikerinnen Deutschlands, zu stellen, distanzierte man sich von ihr und erteilte ihr faktisch ein Redeverbot“, hieß es in einer Erklärung des Karl-Liebknecht-Kreises Brandenburg. Rund die Hälfte der Mitglieder dieses Gremiums erklärten mit dem entsprechenden Papier unlängst ihren Austritt aus der Partei.
Solche Schritte planen Anhänger Wagenknechts an mehreren Orten. Auch in Baden-Württemberg wollen Mitglieder und Funktionäre die Linke verlassen. Einzelne solcher Erklärungen seien bei der Partei schon eingegangen, erfuhr Telepolis aus dem Landesverband. Eine weitere Gruppe um eine ehemalige Bundestagsabgeordnete plane derzeit den Austritt, der medienwirksam inszeniert werden soll.
Um Ein- und Austritte ist ein regelrechter PR-Kampf entbrannt. Die FAZ berichtete, die Linke habe seit dem Austritt von Sahra Wagenknecht und ihren Anhängern aus der Partei deutlich mehr Mitglieder gewonnen als verloren. Das gehe aus vorläufigen Zahlen der Parteizentrale hervor. Demnach gab es seit dem Wagenknecht-Austritt am 23. Oktober mehr als 2100 Eintritte. Allein in der vorletzten Woche seien es 538 gewesen. Unter den Neumitgliedern befinden sich offenbar viele Aktivisten.
Wagenknecht-Anhänger treffen sich
Anhänger von Wagenknecht kamen indes auf einem Kongress des Netzwerks „Was tun?“ in Frankfurt am Main zusammen. Dort debattierten auch Parteimitglieder über den Kurs und die Zukunftsaussichten der Partei Die Linke. Anwesend waren unter anderem die BSW-Mitglieder Klaus Ernst und Andrej Hunko.
Hunko diagnostizierte dabei einen gestiegenen Entfremdungsprozess von der Partei Die Linke, legte aber Wert auf die Feststellung, dass er nicht nach Frankfurt gekommen sei, um neue Mitglieder für das aus dem BSW entstehende Parteiprojekt zu rekrutieren.
Andreas Grünwald aus Hamburg, einer der Initiatoren des „Was tun“-Kongresses, kritisierte, dass aus seiner Sicht „friedenspolitische Positionen, wie sie sich aus dem Erfurter Programm ableiten, weiter verwässert wurden“. Darüber habe auch eine Kompromissformulierung zum Krieg im Nahen Osten nicht hinwegtäuschen können.
Neben der Friedensfrage – das wurde in Frankfurt deutlich – will auch die Kritik an der Parteiführung in der sozialen Frage nicht verstummen. Die von Wagenknecht wiederholt vorgebrachten Vorwürfe, die Partei Die Linke vertrete nur noch die Interessen urbaner Eliten und fahre einen linksliberalen Kurs, wurde sichtbar von vielen Mitgliedern an der Basis geteilt.
Allerdings werden dort auch versöhnliche Töne laut. Der Rechtsanwalt Niels-Olaf Lüders vom „Karl-Liebknecht-Kreis Brandenburg“ erklärte, dass die Frage nach einem Austritt aus der Linkspartei emotional behaftet sei. Auch brachte Lüders seinen Respekt vor denen zum Ausdruck, die trotz Differenzen weiter in Linken aktiv sein wollen.
Das sind die neuen Basisstrukturen um das Wagenknecht-Projekt
In einem Beitrag für Telepolis wies Peter Nowak allerdings auch auf die Probleme der neuen Formation um Wagenknecht hin. Bei dem Kongress in Frankfurt am Main sei am vergangenen Wochenende Unruhe spürbar gewesen. „Dort drängten viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf eine stärkere Einbindung der Basis“, so Nowak.
Viele hatten auf einen schnellen Eintritt gehofft. Dass sie vielleicht einen linken Flügel einer Partei der wirtschaftlichen Vernunft bilden werden, darin müssen sie sich erst gewöhnen. Es gibt auch schon Stimmen, die vor einem zu schnellen Austritt aus der Linkspartei warnen, bevor die ideologischen Grundlagen der neuen Formation überhaupt klar sind. Auf der Tagung waren auch Stimmen zu hören, die darauf drängten, in der Linken zu bleiben. Peter Nowak, Telepolis
Diese Kritiker stellten sich die Frage, ob sie in der Linkspartei womöglich doch mehr Gehör fänden als in der neuen Formation. „Die Wagenknecht-Dämmerung hat zumindest bei deren linken Anhängern schon eingesetzt“, so Nowaks Eindruck.
Vor dem ersten Parteitag des „Bündnis Sahra Wagenknecht“ im kommenden Januar jedenfalls haben sich mit dem „Was tun?“-Bündnis und „Karl-Liebknecht-Kreisen“ erste Unterstützerstrukturen gegründet.
Schon die Namensgebung lässt erkennen: Hier finden sich orthodoxe Linke zusammen. „Was tun?“ – das ist der Titel einer Schrift von Lenin aus dem Jahr 1902. Darin begründet Lenin die Theorie der „Avantgarde des Proletariats“ und schreibt über die Zusammenarbeit von Bildungsbürgertum und Arbeiterklasse in sozialistischen Parteien.
Das Netzwerk hatte sich im Mai noch unter der Fahne der Linkspartei in Hannover konstituiert. Dabei zentral: die Friedensfrage.
In Zeiten des Krieges gibt es nichts Wichtigeres als Frieden. Mit Erschrecken nehmen wir daher zur Kenntnis, wie die größte friedenspolitische Kundgebung seit Jahrzehnten, die am 25. Februar 2023 in Berlin stattfand, auch in linken Kreisen als „rechtsoffen“ diffamiert wurde. (Erklärung zum Kongress „Was tun? DIE LINKE in Zeiten des Krieges“, 6. Mai 2023, Hannover)
Auch die „Karl-Liebknecht-Kreise in Baden-Württemberg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen stehen dem neuen Wagenknecht-Projekt nahe. Zugleich erfüllen sie eine Scharnierfunktion zwischen der neuen Formation und der Basis der Linkspartei.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht, Lenin und Liebknecht? Es ist ein seltsam anmutendes Sammelsurium noch loser Strukturen, das sich da bildet. Ob die mögliche Partei um die ehemalige Linken-Politikerin der alten Linken aus West und Ost eine neue politische Heimat bietet? Die Hoffnung scheint an der Basis zu bestehen.
Lenin jedenfalls hatte seinem Aufsatz „Was tun“ einst ein Zitat Ferdinand Lassalles aus einem Brief an Karl Marx vorangestellt. Erst „Parteikämpfe“, heißt es da, gäben einer Partei Kraft und Leben. Der größte Beweis der Schwäche einer Partei sei hingegen „das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen“.
In dieser Hinsicht zumindest sind die Linke und das Wagenknecht-Bündnis gleichermaßen avantgardistisch.